28. März 2025 Die auf dem Sofa sitzen dürfen

Koordinaten: 38°10.139‘N 38°54.850‘W
Zurückgelegte Seemeilen: 11505 nm
Wetter: merklich kühler, auch im Dorm
Momentane Geschwindigkeit: 4.5 kn
Kurs: 80° W · Ziel: Horta, Azoren
Maritimes Leben: Delfine, ein Tintenfisch
Stimmung: Ständige Todesangst wegen großangelegtem Werwolf-Spiel (hier Klabauterwesen und Sirenen)
 
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Wer sind denn eigentlich diese Pädis, von denen immer gesprochen wird? Die sich freiwillig sieben Monate lang mit 43 pubertierenden Jugendlichen auf ein Schiff begeben und ein selbstbestimmtes erwachsenes Leben mit den vermeintlichen Vorzügen des vermeintlich sicheren Lehrberufes gegen zu weich gekochte ungesalzene Nudeln, blaues Plastikgeschirr und die ständige Resignation eintauschen, keine Gabel mehr zu bekommen, weil schon zu viele von ebensolchen liegengelassenen blauen Plastiktellern mitsamt Besteck vom Bridgedeck in die ewigen Weiten des kilometertiefen Atlantiks gerutscht oder auf Expi verschwunden sind und das Schiff verständlicherweise nicht unbegrenzt nachlegt.

After Work Pädis

After Work Pädis © Karo

Dieser Text handelt nicht von Essbesteck. Dieser Text soll auch keine Aneinanderreihung an Gründen werden, warum es uns ach so schlecht geht an Bord, keineswegs. Er soll einen kleinen Einblick geben, mit Fokus auf denen, die sonst nicht im Fokus sind. Warum wir hier sind, was wir den ganzen Tag machen und was uns täglich antreibt:
In kurzen Selbstvorstellungstexten zum Upload auf den Blog haben wir vor einem Dreivierteljahr unsere Motivation aufgeschrieben, warum und mit welchen Leitgedanken wir eure Kinder und Enkel:innen, Nichten und Neffen oder vielleicht auch Schüler:innen hier begleiten wollen. Es sind Ideale, nach denen wir uns täglich richten, die aber natürlich im Alltag nicht immer in vollem Umfang umsetzbar sind, weil wir auf einem sich bewegenden Schiff leben. Denn auch unser Käsebrot rutscht regelmäßig vom blauen Teller, auch wir stolpern beim Versuch, einen Fuß ins Hosenbein zu bekommen, während der sockige Standfuß davonschlittert und man gleichzeitig versucht, sich selbst an irgendeiner Kante und die Hose am Bund festzuhalten. Auch wir knieten andächtig vor Eimern und ließen uns Zwiebelsuppe mit Banane nochmal durch den Kopf gehen – eine abscheuliche Kombination, nebenbei bemerkt.

Wir sind hier, weil wir von direktem Austausch mit Jugendlichen in der Schule nicht genug bekommen haben und Lust auf Abenteuer hatten. Hier haben wir direkten Austausch, und nicht zu wenig. Wir sind live dabei, wenn physikalische Kräfte wirken, die wir gerade erklärt haben, wenn Kommunikationstheorien im komplexen Gruppenalltag angewendet werden, wenn ehemalige Feind:innen plötzlich doch die gleiche Meinung haben, wenn sich zwei Jugendliche in die Ecke der student mess verziehen, damit einer dem anderen Ratschläge erteilt, wie er oder sie sich bis zum Ende der Reise noch weiter positiv entwickeln könnte.

Und wir sind live dabei, wenn der erste Morgenrülpser feierlich ausgestoßen wird und bekommen manchmal deutlich mehr von Gesprächen mit, als uns lieb wäre. Der begrenzte Raum an Bord ist für alle eine Herausforderung.

Auch die Zeit ist hier immer stark begrenzt. Wir hangeln uns um unseren Unterricht herum an manchen Tagen von Meeting zu Meeting. Vom Morgenmeeting mit dem Team parallel zum Frühstück, in dem wir dringende Themen ansprechen, die mit der Management-Ebene, abgeklärt werden müssen und in dem wir nachspüren, ob irgendwo zwischen oder innerhalb der drei Gruppen (Schiff, Pädis und Jugendliche) Konflikte bestehen, die gemeinsam gelöst werden sollten. Danach steht das Management Meeting an, bestehend aus Kapitän und 1st Officer, Projektleitung und student representatives, falls man zur erklärten Gruppe gehört. Hier werden Informationen ausgetauscht und Entscheidungen getroffen, die die Interaktion jener drei Gruppen betreffen. Nach dem Vormittagsunterricht gibt es Mittagessen, das erst startet, wenn es in der mess nicht mehr messy ist und bei dem die ersten der Schlange fertig sind, bevor die letzten etwas zu Essen haben.

Danach gehen die Pädis weiter auf die ALM – after lunch meeting steckt hier im Akronym. Da werden alle Zuständigkeitsbereiche nach einem follow up des Management Meetings einmal besprochen. Dazu gehören neben Terminabsprachen der verschiedenen Arbeitsgruppen (denn nicht alles wird im gesamten Team diskutiert, dafür hat der Tag nicht genug Stunden und wir nicht genug Hirnmasse) beispielsweise Planung der Unterrichtskontingente, Überblick über Finanzen, Nachfrage nach Einhaltung der verschiedenen Maßnahmen zum Schutz der Jugendlichen (physisch und psychisch) oder Ankündigungen von pädagogischen Maßnahmen (das macht uns keinen Spaß, aber ist manchmal nötig).

Und dann ist da der Unterricht, zweimal am Tag das gleiche Programm, weil immer eine Gruppe auf watch ist oder schläft. Der Unterricht, der hier an Bord ganz andere Herausforderungen darstellt als jener, in dem jede:r von euch mal gesessen hat. Das Klassenzimmer hier unter Segeln ist nämlich um Längen spartanischer ausgestattet als solche in feststehenden Schulgebäuden, es dient ja auch die restliche Zeit als Wohn- und Esszimmer. Dafür liegt aber auch der Fokus nicht auf den von den Ländern festgelegten Lernplänen, sondern auf dem, was wir an Land und an Deck erleben.

Unsere Gewinnmomente: Wenn die Jugendlichen sich gegenseitig zu Mäßigung ermahnen und entsprechend handeln, damit die Essensausgabe fair bleibt und für alle genug da ist; wenn jemand sich traut, die mitgebrachten Mensturationstassen auszuprobieren; wenn das Vertrauen so weitreicht, dass man detailliert in die verschiedenen Qualitäten der Beziehungen an Bord eingeweiht wird. Natürlich geht uns das Herz auf, wenn unser Milchreis zum Sonntagsbrunch als der beste der Reise beschrieben wird; gleichzeitig ist die höchste Währung zwischen Pädis und Jugendlichen der ehrliche Austausch, die kleinen Momente des Wachsens und dass wir sie miterleben dürfen, und gegenseitiges Verständnis bei unterschiedlicher Meinung („Ambiguitätstoleranz“ blitzt da im Hirn der Pädis auf, das ist der Zustand, der entsteht, wenn man „sondern“ und „aber“ durch „und gleichzeitig“ ersetzt und es so meint). Ambiguitätstoleranz begleitet auch alle anderen Bereiche dieser komplexen Reise, hier ist selten etwas in richtig/falsch, schwarz/weiß, ja/nein abgrenzbar, alles wird in Bewegung und Kontakt irgendwo dazwischen hergestellt.

Work Pädis

Work Pädis © Kasia

Wir sind also die Pädis, die auf der gepolsterten Eckbank in der crew mess (= „Sofa“) sitzen und arbeiten dürfen, was symbolisch dafür steht, dass wir andere Privilegien haben als die Jugendlichen. Und gleichzeitig ist da nie genug Platz für alle und würde ich gerade dort sitzen, bekäme ich nicht mit, wie im Anschluss an interessanten Input über globale Windsysteme erfolgreich aus zwei sich abwechselnden Kehlen das gesamte Alphabet gerülpst wird. Ob das eine Praxisbezug zum anderen hat, muss wer anderes bewerten, ich muss mich jetzt in die Essensschlange stellen, sonst gibt’s keine Soße mehr zu den etwas weichen ungesalzenen Nudeln.
 
PS: Falls ich es vor dem ersten Mai nicht mehr loswerde: Glaubt an die Weisheit eurer Kinder und schenkt ihnen Geduld, wenn der Kompass nach der Reise etwas braucht, um sich einzunorden. Bei uns wird’s kaum anders aussehen.
PPS: Es gab genug Soße zu den Spaghetti, drei verschiedene sogar, nur die Gabeln waren tatsächlich leer.

Sina

 

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Grüße:

  • Florian: Hi an meine Family und Joseph, Ari, Theo, Marc, Carl, George and everybody else that I forgot.
  • Julian: Grüße an meine Familie und Seefeldt, Feli & Creme. Hab den Käsestangentag natürlich vergessen :-(((
  • Perseus: Liebe Grüße an meine Familie. Hab euch lieb. Happy Birthday an Hania! Ich glaub zwar eher nicht, dass du das liest, und ich bin nicht sicher, wann dieser Blog rausgeht, aber wenn du das siehst, hab einen schönen Geburtstag! Immer wenn ich Tiramisu esse, denke ich an dich! ;)
  • Lea: Hallo Mama, Papa und Janna und vielleicht lesen Oma und Opa diese Grüße auch. Hab euch alle ganz doll lieb! Der Nordatlantik ist nicht wie erwartet stürmisch und winterlich, sondern es scheint der Frühling angebrochen und bald Ostern zu sein ... das Wetter lässt es vermuten. Hier fehlen nur die Schneeglöckchen und Krokusse und lange Spaziergänge mit Maya. Kuschelt Toulouse von mir und fühlt euch gaaaanz doll gedrückt.
  • Felix: Lieber Julian, liebe Mechtild seit unserem Studium in Wü begleitet ihr mich und ich wünsche euch, unter diesem Pädi-Blog, alles Gute und Gottes Segen zum Geburtstag! Liebe Paula, auch wenn dein Onkel mitten auf dem Atlantik ist, ich denke an dich und hoffe du hast einen wunderbaren Tag, lass dich feiern und fühle dich gedrückt!
  • Judith: Hey!
  • Marie: Ich grüße all die großen Wellen, die sich unserer Reise bisher gänzlich entziehen und ihre Wogen an anderen Orten dieser großen Welt schlagen. Wie gerne würde ich euch kennenlernen. Von ganzem Herzen grüße ich dich, lieber Opa, vom Nordatlantik. Außerdem denke ich zur Zeit ziemlich oft an euch, David und Sarah, und so viele andere … ich vermisse euch, eure Gesellschaft, eure Gedanken und Ratschläge, unseren Austausch.
  • Karo: Hallo ihr lieben Menschen zuhause. Niemand hätte unsere Situation hier an Bord treffender beschreiben können als Sina in diesem Blog. Es ist ein verrücktes kleines Paralleluniversum hier. Und nach wie vor bin ich super froh Teil davon sein zu dürfen. In 3 Tagen kommen wir wahrscheinlich auf den Azoren an. Bis ganz bald, fühlt euch gedrückt.