5. April 2024 Haare und die Veränderung ihrer Besitzer
Datum: 4. April
Position: Vor Horta, Azoren
Kurs: Hoffentlich bald in den Hafen zurück
Bisher zurückgelegte Seemeilen: Mehr als zehntausend
Wetter: Wechselhaft mit viel Wind
Gesetzte Segel: Keine
Geschwindigkeit: Keine
Stimmung an Bord: Erschöpft und beschäftigt
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Hallo an alle da draußen,
wir sind gerade auf den Azoren, genießen die Zeit an Land (und im Café Peter Sport) und versuchen auf unser Leben klarzukommen. Das klappt mal mehr, mal weniger gut (macht mal ne siebenmonatige Segelreise durch die halbe Welt und erlebt den letzten Monat, dann wisst ihr, was ich meine). Ich für meinen Teil bin gerade sehr glücklich, endlich wieder richtige grüne Wiesen, den Geruch nach bekannten Bäumen und ein klitzekleines bisschen das Gefühl einer europäischen Landschaft zu bekommen. Auch wenn ich die Tropen mehr und mehr vermisse und mich schon jetzt vor einem kalten, grauen Winter zurück in Norddeutschland grusele.
Aber davon sollte dieser Blogbeitrag eigentlich gar nicht handeln, er sollte über Veränderungen und Entwicklungen berichten. Und zwar nicht nur um die der Flora um uns herum, sondern auch um die Veränderung unserer Persönlichkeiten und unserer Selbst. Wir alle haben nämlich so unglaublich viel gemeinsam gelernt, erlebt und durchgemacht, dass ich mich selbst von vor sechs Monaten immer weniger in mir selbst wiederfinde. Dieses Thema der Veränderung von uns, sowohl als Individualitäten aber auch als Gruppe, ist echt komplex, und häufig weiß ich nicht, wie ich all die damit verbundenen Prozesse, Gefühle und Gedanken richtig ausdrücken soll.
Zum Beispiel beim monatlichen 3-Stunden-Telefonat mit Zuhause, sprich Familie und Freunden. Denn wie bitte schön erzähle ich in drei Stunden pro Monat von einer jetzt sechsmonatigen Intensiv-Erfahrung mit 24/7 neuen Eindrücken, Erfahrungen, Erlebnissen und Begegnungen? Ganz ehrlich: Keinen blassen Schimmer! Und ich habe auch ein bisschen Angst davor, wie das dann ab dem 1. Mai zur Realität werden wird.
Hier in diesem Blog will ich jetzt probieren, euch das zu erklären. Vor ein paar Tagen ist mir dazu eine vielleicht (vielleicht auch gar nicht) passende Metapher aufgefallen, ausgelöst durch einige sehr interessante, und sehr originelle, Frisurveränderungen, die in der Nacht auf den 1. April fleißig geschnitten und vor allem rasiert worden sind. Nur so viel: Der sogenannte „Klosterscheitel“ ist an Bord recht populär geworden.
Ich selber hatte mir nach lebenslanger konventioneller blonden Langhaar-Frisur bereits Ende der ersten Atlantiküberquerung eine voll Glatze rasiert, meine daraus entstandene Kurzhaarfrisur dann auf Expi komplett blau gefärbt und nun in einen „Klosterscheitel“ verwandelt. Nach dem Vorbild von Lars, der sich bereits am allerersten Tag an Bord ein großes kreisrundes Loch in seine schwarzen Locken rasiert hatte, mitten auf dem Kopf. An Bord berühmt und berüchtigt als „Klosterscheitel“. Und im Sinne des 1. Aprils (hoffentlich kommt dazu noch ein Blogbeitrag) bekam Lars die Idee, diesen Klosterscheitel erneut an Bord zu bringen; allerdings nicht allein, sondern mit so vielen Menschen wie möglich. Es war einiges an Überzeugungsarbeit zu leisten, doch Lars setzte seinen Plan um. So standen am 1. April morgens im Mustering ganze sechs Menschen mit einer großen rasierten Lücke in der vorher so intakten Frisur. Irgendwie lässig.
Für mich spiegelt diese Aktion in vielerlei Hinsicht den Spirit wieder, der sich im Laufe der Zeit und zusammen mit den Hochs und Tiefs, die uns sowohl im Wetter als auch in unseren Student-Meetings immer wieder gefordert und zusammengeschweißt haben, so entwickelt hat. Ich denke viele Aspekte davon haben damit zu tun, dass wir wirklich unglaublich viel Zeit nur noch unter uns waren, einander zu 100 % kennen und schätzen gelernt haben und vielleicht das erste Mal raus aus Europa und unserem Umfeld zu Hause gekommen sind.
Vollkommen abgeschnitten von jeglichen äußeren Einflüssen. Dadurch sind Oberflächlichkeiten wie Frisuren und auch Aussehen immer mehr nichtig und überhaupt nicht relevant geworden. Klar sind Stil, Klamottenwahl, Aussehen und Lifestyle auch manchmal Thema und vielleicht interessant, aber ich habe ganz klar das Gefühl, dass der in Deutschland sonst ja so präsente verurteilende, kritische und negative Part davon einfach irgendwann auf der Strecke geblieben ist und wir einander viel mehr positiv bestärken, empowern und unterstützen können als es uns in Deutschland jemals möglich wäre. Denn zu Hause gibt es feste Strukturen wie Stereotypen, die sogenannte „Normschönheit“ und patriarchale Muster, befeuert durch Konkurrenz, Neid und Social-Media, welche uns zwingen, so viel Verurteilung und Bewertung jeden einzelnen Tag zu ertragen und standhalten zu müssen, dass ich mich jetzt hier auf dieser Reise frage, wie wir und wie ich das vorher ausgehalten habe und was für ein krasses Glück ich habe, auf dieser Reise sein zu dürfen.
Doch ich habe den Eindruck bekommen, dass ich eher noch froh sein kann darüber, wie es bei mir ist, da es in anderen Schulen zu Hause leider nicht wenige Klassen gibt, wo das tägliche Kritisieren und die ständige Verurteilung hin zu Mobbing ausarten, Hass und Ausgrenzung Realität sind, und wo der eigene Alltag viel zu schnell zur Hölle werden kann. Aber ich denke, das wirklich Schlimme ist, wenn sich dieses ständige kritische Bewachen, diese Verurteilung von Individualität und die komplette Reduzierung auf äußerliche Dinge wie Körpergrößen und „Normen“ weiter erstreckt als auf Bildungseinrichtungen und sämtliche Social-Media Plattformen, sondern wenn diese Art des psychischen Angriffs sich auch auf die eigene Familie und besonders auf die eigenen Eltern ausweitet, welche durch Druck und der Vermittlung von fragwürdigen Idealen häufig sehr viel Schaden bei der natürlichen Selbstwahrnehmung von Jugendlichen ausrichten können.
Zu versuchen, Kinder in bestimmte Rollen zu stecken oder die natürliche Individualität zu unterdrücken, ist total fatal. Wenn Eltern ihre eigenen Kinder nicht so akzeptieren, wie sie eigentlich sind, nimmt das vielen Jugendlichen das Gefühl von einem zu Hause, wo sie sicher sind und immer und zu 100 % bedingungslos geliebt werden. Diese bedingungslose Liebe war in meiner Kindheit eine der Sachen, auf die ich mich immer, immer, immer verlassen konnte, und für die ich sehr dankbar bin. Mir tut jedes Kind leid, welches diese Erfahrung nicht teilen darf, und ich hoffe, dass es nicht so viele sind, wie ich manchmal den Eindruck habe.
Vor dieser Reise war ich mir darüber ehrlich gesagt aber auch nicht so im Klaren wie jetzt. Und mir sind auch viele andere Dinge bewusst geworden, über die ich vorher vielleicht überhaupt nicht nachgedacht habe. Ich habe das Gefühl, in den sechs Monaten habe ich jedes einzelne Teil meiner Persönlichkeit einmal umgedreht, hinterfragt und verändert, und jetzt bin ich zwar immer noch ich, aber es ist mit mir in der Zwischenzeit einfach unglaublich vieles passiert. Und auch das war ein Prozess, der durch meine unterschiedlichen Frisuren und mit der Veränderung meines Äußeren einherging und auch immer noch andauert.
Ich habe auch das Gefühl, dass die Möglichkeit, mein Erscheinungsbild so krass zu verändern, geholfen hat, um mir diese Entwicklungsschritte selber überhaupt erst bewusst zu machen. Und nur um hier mal Klartext zu sprechen: Für diese Entwicklung hätte es niemals ausgereicht, sich einfach ein paar neue Länder anzuschauen, den einen oder anderen Konflikt mit einer Gruppe zu lösen, oder physisch gefordert zu sein. Erst diese lange Zeitspanne in immer der gleichen Gruppe, auf engem Raum, mit viel zu viel zu tun und die Konfrontation mit so vielen anderen Menschen, Ländern und Kulturen in dann doch so kurzer Zeit, mit so viel Seekrankheit, Überwindungs- und K.O.-Momenten, hat mich zu dem Entwicklungsstand gebracht, an dem ich jetzt bin. Wobei es vielleicht wichtig ist, zu sagen, dass diese Reise definitiv eins der besten Dinge war, die mir so hätten passieren können und dass ich viele Dinge aus den letzten Monaten für mein ganzes Leben mitnehmen werde können. Auch uns als Gruppe hat diese Reise vielleicht nicht direkt zu einer Familie gemacht, aber doch zu einer sehr besonderen Art von Lebens-, Lern- und Arbeitsgemeinschaft, für die ich wirklich sehr dankbar bin, und die wir alle sehr schätzen.
Und auch sehr vermissen werden.
Einmal kurz als Update, wie es uns jetzt momentan so geht: Ich musste das Schreiben dieses Blogs mehrmals unterbrechen, da uns, als wir in Horta im Hafen lagen, aufgrund von Wind und Wellen (in Böen bis zu 10 Windstärken) nach und nach so viele Mooringlines gesnappt sind, dass wir kurzfristig losgemacht haben und leider unseren gemeinsamen Abend mit Ocean College unterbrechen mussten. Nachdem sich beim Ankern im Hafenbecken einer unserer Anker dann so stark verklemmt hatte, dass wir ihn zurücklassen mussten, sind wir nachts in eine Bucht vor der Insel gefahren, um da die Nacht über zu driften. Heute Morgen sind wir zurück in den Hafen, haben mithilfe professioneller Taucher unseren Anker zurückbekommen und ankern jetzt vor dem Hafen von Horta. Infolge dessen haben wir alle sehr wenig Schlaf bekommen, es werden unter Hochdruck Mooringlines gespleißt (quasi „repariert“), und wir hoffen, morgen wieder alongside und an Land gehen zu können. Natürlich ein bisschen schade, dass Teile des Landprogramms ausfallen müssen, aber es geht uns allen gut und wir freuen uns auf die nächsten Tage.
Ganz liebe Grüße von Bord,
Nora
Grüße:
- Nora: Liebe Freya, alles, alles gute zum Geburtstag. Ich wünsche dir ein wundervolles neues Lebensjahr mit ganz viel Spaß, coolen Erlebnissen und lieben Menschen, und hoffe es geht dir gut und du genießt deinen Tag! Ich denke sooo sehr an dich, habe dich unendlich doll lieb und kann es kaum erwarten, dich am 1. Mai nachträglich zu umarmen! Ich vermisse dich. Meine lieben Eltern, ich meine den Brief vom Atlantik immer noch genauso.
- Filippa: Ganz liebe Grüße an meine Eltern, Tassilo, meine Großeltern, Leonie, Marilou, Niklas, Ina, Ritsaert, Claudia, Isabel, Anna, Laetizia, Tobi, Stanzi, Catherine, Valentine und Caroline vielen, vielen Dank für eure liebe Geburtstagspost! Viele Grüße auch an die Tanzkurs-Girls und die Schäftlaner, ich habe mich sooo über eure Geburtstagskarten gefreut, vielen Dank! Ich vermisse euch alle und freue mich ganz doll auf euch in einem Monat <3
- Jonna: Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag liebe Freya
- Clara: Viele Grüße an meine Eltern, ich hab heute mit 12 Stunden Schlaf den Schlafmangel aus den letzten 2 Wochen nachgeholt und hatte vorhin mein Handover Interview. Und viele Grüße an meine Freunde <3
- Jan: Viele Grüße an meine Eltern und Svenja.