12. April 2023 »Vom Winde verweht«
12.04.2023; 17:55 Uhr
Position: 46° 57.731' N; 14° 46.580' W
Gesetzte Segel: Forestaysail, Mainstaysail
Geschwindigkeit: 5.2 kn
Windstärke- und Richtung: 6; NW
Aktuelle Handovercrew: Tom, Freddy, Annemarie, Moritz, Johanna, Nika, Jana, Lilly, Kara, Valentina, Paul
Kurs: 060°
Engine: off
Wetter: bewölkt und windig
Stimmung an Bord: hypeddd
Anzahl Seekranker Leute: ein paar
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Vor den Azoren hatten wir ausgehend vom Deutschunterricht von Sina und Vici einen richtig schönen Poetryslam Abend, bei dem alle die wollten, einen eigenen Text vorstellen durften. Wir haben die Studentmess schön dekoriert und während draußen der Nordatlantik tobte, durften wir in der gemütlichen Messe in toller Atmosphäre wunderschönen Texten lauschen.
Für alle die nicht wissen, was ein Poetry Slam ist, das ist eine Form von Poesie, also eine Art von Gedicht, die aber auch ganz viel auf das Vortragen des Textes baut. Das Ganze muss gar nichts, muss sich also nicht reimen oder sich an irgendwelche Vorgaben halten. In dem Fall hab ich meinen Beitrag
jetzt einfach mal runtergeschrieben, viel Spaß beim interpretieren ;-)
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Vom Winde verweht
Wo sind wir?
Wo sind wir? Ich weiß es nicht.
Wo wir uns befinden, ja, das weiß ich.
Das ist nicht schwer zu sehen, um auf die Karte zu gucken, musst du nur nach Oben gehen.
Wir befinden uns auf einem Dreimaster, irgendwo zwischen Amerika und Europa. Das weiß ich.
Doch wo wir sind, das weiß ich nicht.
Vor allem für euch alle kann ich da nicht sprechen. Ich kann nur meine eigenen Gedanken aufbrechen. Denn wo ich wirklich bin, dass weiß nur ich ganz tief in mir drin. Nicht nur wo ich gerade bin, nein, auch wo ich in fünf Jahren sein werde. Auf welche Seite ich mich stelle, oder ob ich einfach abhebe. Ob ich wegfliege, abtauche, oder doch zwischen meinen Träumen gefangen bin. Welchen Weg ich dann einschlage, auf welchem ich gerade stehe.
Wo bin ich?
Ich weiß es nicht.
Vielleicht schwebe ich auch einfach nur im grauen Nebel umher oder dümple irgendwo zwischen weißen Schaumkronen im weiten Ozean.
Hab ich mich denn so sehr verloren?
Kann es wirklich sein, dass ich tausende Meilen von der Gulden Leeuw entfernt bin, sich meine Gedanken in den Baumwipfeln des Costa-ricanischen Regenwaldes verfangen haben und meine Zweifel irgendwo im Südatlantik auf dem Grunde des Meeres liegen? Bin ich denn gar nicht wirklich hier? Mein europäisches Weltbild liegt noch zwischen Vulkangestein auf Teneriffa und eine Angst ist einfach im karibischen Meer abgetaucht? Dass sich Ideen zwischen Hailliard und Downhaul verhängt haben und dass der Wunsch, das alles hier wieder zu verlassen einfach in Bremerhaven an der Pier geblieben ist?
Ich glaube, ich habe mich im Ozean vergessen. Wo langsam die Wellen über mir brechen, ich auf dem Rücken liege und mir Salzwasser ins Gesicht spritzt. Die Luft riecht frisch, es ist nicht kalt.
Wo bin ich?
Auf jeden Fall nicht im Moment.
Wer bin ich?
Wer bin ich? Mein Name ist Johanna Schreiter, ich bin 15 Jahre alt und komme aus München.
Nein ich meine: Wer bin ich?
Meinen Namen, den kenn ich schon seit einigen Jahren und auch mein Alter kann ich mir ganz gut merken, aber was sagt das schon aus? Was sagt das über mich aus? Wenn ich jetzt Lisa oder Hanna heißen würde, wäre ich ja trotzdem noch ich.
Aber wer bin ich?
Eigentlich sollte dein "ich" wie ein stetiger Schatten neben dir stehen, aber ich glaube, mein Schatten verschwimmt noch bisschen. Er schwebt in unklaren Schwaden zwischen den Leinen und gefunden habe ich ihn noch nicht so wirklich.
Gesucht habe ich, ja.
Gefunden habe ich mich noch nicht, Nein.
Wer bin ich? Ich bin eine Tochter, ich bin eine Freundin, eine Schwester und eine Schülerin, aber bin ich denn wirklich nur ne Rolle? Wer bin ich, wenn ich alleine bin mit mir, wer bin ich?
Wer ich bin, weiß ich nicht und ich glaube, diese Frage vernebelt mir die Sicht auf die Zukunft und das Eigentliche, das man gar nicht sehen kann. Ich bin gefangen im Blau, vorm Hintergrund eines tiefblauen Ozeans. Ich spiele verstecken mit mir selber.
Wer ich bin weiß ich noch nicht, vielleicht brauch ich einfach noch bisschen, bis wir uns treffen.
Wer ich bin?
Auf jeden Fall kein Realist.
Was bin ich?
Was ich bin, klar ich bin ein Mensch.
Ich bin ein Mädchen in einer Welt voller Männer und Frauen und allem dazwischen.
Wir sind alle Menschen, ich bin ein Mensch. Aber das mein ich nicht.
Was bin ich?
Und was bin ich nicht? Was bin ich als einer dieser unzähligen Menschen?
Ein kleiner Punkt.
Ein kleiner Tropfen im großen Blau. Ein Individuum inmitten einer Menge aus Individuen, die langsam zu einer Masse zusammenschmelzen. Bin ich denn überhaupt etwas für das Große und Ganze?
Ich bin vergänglich. Ein vergängliches Individuum inmitten einer Masse. Ich bedeute also nichts. Nein, ich bedeute wenig. Denn wird sich in 100 Jahren irgendwer an 40 Teenager erinnern, die mal den Atlantik überquert haben? Ich glaube kaum.
Ich bin vielleicht gerade unbedeutend für das Große und Ganze, aber was mit mir und meiner Umgebung ist? Was wenn du ein sehr bedeutendes Individuum für mich bist?
Was bin ich?
Ein Punkt.
Zwischen Tausenden.
Wann bin ich?
Wann sind wir endlich soweit?
Groß genug, um über den Tellerrand hinaus zu blicken. Schritt für Schritt die Leiter zu erklimmen, um hinterm Tellerrand einen unendlichen Horizont auf uns warten zu sehen.
Wann bin ich endlich groß genug dafür?
Groß genug, alt genug, reif genug?
Nur noch nicht jetzt.
Ich probier´s ja. Ich streng mich wirklich an und manchmal funktionierts ja auch, aber wann bin ich endlich an dem Punkt angekommen? Die Zeit geht, stetig, schwierig einzuholen, konstant und unaufhaltsam und so komm auch ich immer ein bisschen weiter, immer weiter.
Ich strecke mich, auf die Zehenspitzen, shit- immer noch nicht groß genug. Manchmal zweifle ich daran, dass es überhaupt einen Punkt gibt. Vielleicht wächst es einfach nur, wächst mit mir und manchmal sind wir kurz auf einer Höhe. Ob es jemals ein Jetzt geben wird? Ich denke nicht.
Dann, wenn ich groß genug, alt genug und nicht mehr zu jung, zu dumm bin, um das Alles zu verstehen?
Ich weiß es nicht.
Wann wir so weit sind. Und wann wir dann denken, dass wir da sind, endlich angekommen, dann schleicht er sich heran. Langsam von hinten.
Der Wind.
Er trägt uns und alle Zweifel fort.
Wo wir sind,
wer ich bin,
was wir sind
und wann wir sind?
Wellen.
Gefangen zwischen blau, weiß, schwarz und irgendwas dazwischen.
Ausgeliefert und doch voller Vertrauen.
In den sanften Wogen einer wütenden Mutter, die uns noch gewähren lässt. Bis wir´s irgendwann von selber kapieren, mit einem Lächeln nach draußen schauen und akzeptieren können, dass unser ungeschriebenes Schicksal schon von Anfang an vom Winde verweht ist.
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Johanna