6. Februar 2023 Expis aus Sicht eines Pädagogen
Expi aus Sicht eines Pädagogen …
aber aus zwei unterschiedlichen Perspektiven
Eine kurze Erklärung vorab, wie die Expis (kurz für Expeditionen) strukturiert sind: Die Jugendlichen bilden eigene Gruppen von sechs bis acht Personen, mit denen sie gerne eine Woche zusammen durch Costa Rica und/oder Panama reisen möchten. Dabei bekommen sie ein festes Budget und eine:n Pädagog:in als Begleitung – als reine Begleitung. Wir Pädagog:innen greifen also nur im Notfall ein und überlassen den Jugendlichen die Verantwortung für das Budget, Reiseziele und Aktivitäten.
Diese Voraussetzungen stellten nicht nur die Schüler:innen vor Herausforderungen, sondern auch meine Zurückhaltung und Geduld auf eine Probe. In meinem Kopf fand während der Expi-Woche eine stetige Auseinandersetzung zwischen meinem Ich als erzieherisch eingreifenden Pädagogen und meinem sechszehnjährigen Ich statt. Um diese beiden Charaktere besser auseinanderhalten zu können, gebe ich ihnen die Namen Tobi (Pädagoge) und Bob (mein Spitzname Zuhause, als ich 16-Jahre alt war). Meine Erfahrungen über die Verhandlungen dieser beiden inneren Persönlichkeiten möchte ich in diesem Blogeintrag teilen.
Zunächst zur Gruppenwahl:
Ich habe mir die Gruppe der sechs „Boyz“ ausgesucht, weil keiner von ihnen in meiner Menti-Gruppe ist und ich auf der bisherigen Reise mit den Jungs noch nicht sooo viel Kontakt hatte, wie mit anderen Schüler:innen (da ich bei einer Gruppe von 43 Jugendlichen nicht mit allen gleich viele Konversationen pflegen kann). Bei den vorherigen Planungen hatten die Jungs zudem geäußert, dass sie „etwas entspannter“ unterwegs sein wollten, was meinem – leider immer noch – angeschlagenen Fuß zugutekommen würde [Tobi hat seit St. Vincent einen Bänderriss]. Dass mein sechszehnjähriges Ich Bob eine Rolle bei dieser Wahl spielt, hatte ich zu dem Zeitpunkt noch nicht geahnt.
Nun starten wir also am 25. Januar von Longo Mai aus sehr enthusiastisch in die Expi. Schon auf dem Weg aus dem Dorf zur Hauptstraße kommen die ersten Rückmeldungen zu den Rückenmeldungen. Einige von ihnen hatten ihre Rucksäcke etwas unhandlich und mit sehr viel Inhalt und entsprechendem Gewicht gepackt, sodass eigentlich zu diesem Zeitpunkt schon klar war, dass wir keine längeren Wanderungen machen werden. Meine Erfahrungen von eigenen mehrtägigen Wanderungen ploppen auf: wirklich jedes Gramm zählt! Ich vergleiche sie mit meinen Erinnerungen ans Packen und die Abfahrt vom Schiff, als ich die Rucksäcke der „Boyz“ gesehen und hochgehoben hatte. Aber Tobi verkneift sich jegliche Kommentare zu den „Rückenmeldungen“, da er ja nur Begleitung ist und nicht ermahnend unterwegs sein möchte.
Nachdem wir uns von der Mädelsgruppe (Expigruppe 6 mit Vici) verabschiedet und noch einen hilfreichen Hinweis zu einer geeigneten Bus-App erhalten haben, kommt ein Bus, der in die gewünschte Richtung fährt. Der Busfahrer wird gefragt, wo er hinfährt, da es an der Bushaltestelle keinen Aushang gibt und auch online Informationen nur schwer verständlich zu finden sind: „Der fährt nach San Isidro, von da aus müssen wir umsteigen, also rein da, Jungs.“
In San Isidro angekommen, wird die erste Snackpause ausgerufen und wir warten am Busbahnhof auf den nächsten Bus in Richtung San José. Kurz bevor der Bus kommt, sind noch einige auf dem Klo und quatschen mit der anderen Expi-Gruppe, was Tobis Geduld auf die erste von vielen Proben stellt. Wir haben noch keine Tickets für den Bus, obwohl der Ticketschalter direkt neben uns ist. Mal abwarten, ob die Jungs den noch entdecken, schwirrt es in Tobis Kopf.
Kurz vor der geplanten Abfahrtszeit fragen sie dann doch am Schalter und es stellt sich heraus, dass der Bus bereits ausgebucht ist. Wir können aber den Busfahrer fragen, ob wir noch mitfahren können und dann im Stehen die vier Stunden nach San José verbringen oder wir können auf den Bus in vier Stunden warten. Es wird nicht das letzte Mal bleiben, dass die Leute Druck auf unsere Entscheidung erzeugen, in diesem Fall, um uns von einem Ticket direkt beim Busfahrer zu überzeugen. Dieser lässt uns – zu unserer Erleichterung – mitreisen, bietet uns allerdings einen für ihn sehr vorteilhaften Wechselkurs von Dollar zu Colones an. Haben wir eine andere Wahl, wenn wir passend zum Check-In in San José sein wollen? Wir entscheiden uns für den schlechten Deal. Im Bus folgt die direkte Erkenntnis von Tom: „Wir wurden abgezogen.“ Denn der Bus ist nur halb voll und der Busfahrer hat vermutlich ordentlich privat an uns verdient. Den eigentlichen Preis des Busses kannten wir allerdings nicht. Naja, dafür haben wir immerhin genügend Platz zum Sitzen und breiten uns daraufhin ordentlich aus.
Als wir zur gewünschten Zeit am AirBnB in San José ankommen, wird das Wechselspiel zwischen Tobi und Bob auf eine erste Probe gestellt: Wir können noch nicht final einchecken, weil unser Gastgeber noch Leute in einem seiner anderen Apartments einweist, sodass wir uns in der Lobby niederlassen und dort warten sollen. Nach dem ersten Aufruf der Rezeptionistin zu mehr Ruhe unserer Gruppe, weil wir zu laut gequatscht haben, fangen die Jungs an, willkürlich die unterschiedlichsten (Tier-)Laute von sich zu geben. In meinem Kopf streiten sich Tobi und Bob: „Soll ich jetzt eingreifen und sie zu mehr Ruhe ermahnen – schließlich wurde das AirBnB auf Tobis Namen gebucht – oder steige ich mit ein in die Challenge Nicht-Lachen bei unterschiedlichen Lauten?“ Bob gewinnt die Abwägung, was als erstes Statement von Bob gegenüber Tobi an die Gruppe gewertet wird. Als die Frau uns wiederum ermahnt und einer der Jungs mit einem Stein aus der Lobby-Deko durch die Gegend läuft, übernimmt Tobi wieder das Zepter und greift ermahnend ein. Dann kommt der Gastgeber und löst das gesamte Schauspiel auf.
Im Apartment angekommen, wird die „Shirt-Policy“ hinterfragt, die normalerweise auf dem Schiff gilt. „Müssen wir im Apartment unsere T-Shirts tragen?“ Tobi und Bob wägen ab und stellen fest, dass wir auch einen Pool haben und dort sowieso in Badehose unterwegs sind. Außerdem befinden wir uns in privaten Räumen, in denen die Jungs niemanden belästigen oder mit ihren blanken Oberkörpern irritieren können. „Das ist eure Expi, also könnt ihr die Shirt-Policy hier selbst festlegen“, einigen sich Tobi und Bob, wobei Tobi etwas die Oberhand behält und sein eigenes T-Shirt weiterhin trägt. Anschließend wird erstmal ein Video für den Vlog gedreht, wobei alle Räumlichkeiten der „Fuckers-Mansion“ ausführlich vorgestellt werden. „Ist das pädagogisch so sinnvoll, dass wir uns die „Fuckers“ nennen?“, fragt sich Tobi. „Ein bisschen Selbst-Ironie muss schon sein“, erwidert Bob.
Die zwei Tage im Apartment in San José verbringen wir mit einigen Netflix-Filmen und YouTube-Videos. Für die gesundheitlich leicht angeschlagene Truppe ist es eine sinnvolle Beschäftigung, um sich etwas auszuruhen und Schlaf nachzuholen. Der Pädagoge Tobi fragt sich, was der Mehrwert hinter dem Filmemarathon ist, während Bob sich darüber freut, den „Kopf auszuschalten“ und einfach mal zu chillen.
Zum Glück können wir am Tag des Auscheckens noch etwas länger und ohne wirklichen Zeitdruck unsere Wohnung nutzen, nur die Busabfahrt gibt uns irgendwann einen festen Zeitpunkt vor. Leuten beim Spielen von Online-Games auf YouTube zuzuschauen lockt uns aber etwas mehr auf die bequeme Couch, als Gedanken über die Busabfahrt zu verlieren. Also beginnen Tobi und Bob abzuwägen, ob sie etwas zum Timing sagen sollen. Als die Augen der Jungs zunehmend am (durch das Offline-Projekt so entwöhnten) bewegten digitalen Bild klebten, übernimmt Tobi die Initiative und zwingt die Jungs, den Fernseher auszustellen. Als Tobi danach in der Stadt die Jungs aus zeitlichen Gründen zu einem NEIN zu einer Pizza überzeugen kann, um den Bus pünktlich zu bekommen, den die anderen Jungs reserviert hatten, hat Bob genug von Tobis ermahnenden Eingriffen und übernimmt das Ruder.
Tobi entschuldigt sich daraufhin im Bus bei den Boyz und verspricht, dass er sich ab jetzt aus jeglichen Planungsentscheidungen zurückhalten werde. Durch seinen Einfluss bekamen die Jungs keine Pizza und der etwas verkomplizierte Buszustieg ging auch auf sein Konto. Gesagt – getan. Bob übernimmt das Kommando. Alle lehnen sich zurück in den Bussessel, gönnten sich ein Sandwich und der wildere Teil der Expi soll starten …
… und das noch im Laufe der Busfahrt. Denn die Jungs hatten sich entschieden, dass sie nach ca. fünf Stunden Busfahrt in Uvita aussteigen wollen, um dort am Strand zu übernachten. Die Zeit im Apartment, die Busfahrt an sich sowie die Erschöpfung der letzten Tage sollen es aber besser wissen: Die äußeren und inneren Umstände entführen die ganze Horde ganz gemächlich ins verwunschene Schlummerland. Nach einer Weile der Ruhe und halb verschlafen schaut Tobi auf Google Maps und stellt zunächst beruhigt fest, dass Uvita noch ein Stück entfernt ist. Obwohl – Moment mal – der blaue Punkt entfernt sich mehr und mehr von Uvita in Richtung Süden. Er weiht die anderen Jungs in seine Entdeckung ein, was zu allgemeiner Erheiterung führt: „Oh man, was sind wir denn für Handlampen, dass wir den Ausstieg verschlafen.“ Vielleicht die erste, unbewusste Tat von Bob aus der neu strukturierten Kommandozentrale.
Die Busfahrt endet um kurz vor 23 Uhr in Palmar Norte am Beginn der Halbinsel, auf der sich auch der Nationalpark Corcovado befindet. Das Fazit der gemeinsamen Verplantheit: „Hier wollten wir doch eh irgendwann hin und so haben wir Kosten für die Busfahrt gespart.“ Bleibt nur das Problem mit der Übernachtung. Der anliegende Fluss ist auf Nachfrage bei Passanten voll mit Krokodilen. Die Boyz sind heute zu müde, um sich mit ihnen anlegen zu wollen. Also laufen wir etwas ziel- und planlos durch die Stadt, quatschen Leute in ihren Vorgärten an, ob wir im Garten zelten können, versuchen mit einem Hotel zu verhandeln, bis wir schließlich auf Anraten im Stadtpark unser Lager zwischen den Spielgerüsten aufschlagen. Alle sind völlig übermüdet von den Ereignissen.
Da die Stadt keinen allzu sicheren Eindruck bei Tobi und der Gruppe hinterlassen hat, einigen wir uns darauf, Nachtwachen einzuführen. Die erste Schicht von Tom und Freddy beginnt direkt nach der Ankunft um 0 Uhr. Wobei Freddy – vom leeren Magen getrieben – erstmal ins anliegende Restaurant geht, um sich noch schnell etwas zu essen zu besorgen. Er verlässt den Park mit den Worten „Ben, du bist ja noch wach, kannst du kurz ein Auge auf die Sachen haben?“ Ben pennt nach einigen Minuten weg. Tobi behält den Überblick. Die zwei Hungrigen lassen einige Zeit in der relativ lauten Karaoke-Bar verstreichen, wobei sie ca. alle zehn Minuten die Lage am Park auschecken. Tobi hat aber irgendwann ein ungutes Gefühl, schaut mal nach dem Rechten in der Bar und pfeift die Jungs zurück zu ihrer Verantwortung als Nachtwache. Ihr Essen haben sie sich offensichtlich sehr munden lassen. Als sie es aber anschließend vorziehen, noch Helene Fischer in der Karaoke-Bar zu singen, freut sich zunächst Bob über die ausgelassene Stimmung, Tobi würde aber gerne mit der Gewissheit schlafen, dass die Nachtwache ernstgenommen wird. Nachdem die Jungs sich „atemlos durch die Nacht“ gesungen haben und Bob sich an den schrägen Tönen von Tom und Freddy erfreut hat, winkt Tobi die zwei Jungs zu sich und erinnert sie an ihre eigentliche Aufgabe. So kommt es, dass Tobi um 1:15 Uhr endlich beruhigt seine Ohropax einsteckt und sich zur Ruhe legt. Seine Sicherheitsbedenken in dieser Nacht sollen unbegründet bleiben.
Am nächsten Morgen beim Frühstück werden die ersten „hands“ ausgesprochen und verteilt. Kurze Erklärung: Wenn jemand aus der Gruppe einen so schlechten Spruch oder Witz bringt, dass keiner aus der Gruppe lacht, kann „hands“ gerufen werden und der Witzeurheber bekommt einen leichten Klatsch auf seine Hand. Realisiert er schnell genug, dass vermutlich niemand lachen wird, kann er „no hands“ rufen, um den Handklatschern zu entkommen. Tobi (als ständiger Dad-Joke-Bringer auf dem Schiff bekannt) findet diese Spielerei nicht pädagogisch sinnvoll, vor allem, wenn (wenn auch nur leichte) körperliche Gewalt im Spiel ist. Aber es ist ja noch ein anderer Teil bei diesen Expis dabei. Bob steigt ins Witze-Battle mit ein und kassiert direkt das erste „hands“. Das setzt in der Gruppe offenbar Energien frei, sodass Ben mit einer alten Pizza-Schachtel als Skateboard den anliegenden Skaterpark nutzt und direkt von Anwohnern auf die Vermüllung des Platzes hingewiesen wird.
Nachdem wir uns alle satt gegessen und ausgetobt haben, geht es an die Planung des restlichen Tages. Wir wollen nach Sierpe, um von dort eine Mangroventour zu machen, obwohl das mit unserem Budget eigentlich nicht mehr wirklich erschwinglich ist. Die Diskussion über das Programm beobachtet Bob geduldig und hält Tobi zurück, sich in die Moderation einzumischen. Schließlich einigt sich die Gruppe darauf, die Tour zu machen und findet heraus, dass der Bus nach Sierpe schon in 40 Minuten fahren würde. Diese Zeit haben wir also noch, um unser komplettes Lager abzubauen und schwer bepackt (mit Unterstützung von Einkaufwagen) zur Haltestelle zu laufen. Der pessimistische Tobi, der weiß, wie langsam die Jungs im Packen sind, sieht vor seinem geistigen Auge den Bus ohne uns abfahren. Aber Bob fühlt sich in seiner jugendlichen Leichtigkeit und seinem Optimismus bestätigt, als wir pünktlich an der Bushaltestelle ankommen und den Weg in Richtung Mangroven antreten können.
Nach der Fahrt durch die wunderbar grünen Mangroven kommen wir in Drake Bay im ‚Paradies‘ an, schlagen unser Lager am Strand auf und machen ein Lagerfeuer, um dort unser spärliches Abendessen zuzubereiten. Die Jungs spießen gekaufte Würstchen und die Reste vom Toast auf und versenken diese im Sand, um sie so am Feuer zu erwärmen. Tobi amüsiert sich über den Anblick der im Sand stehenden Würstchen, die in sicherer Distanz zum Feuer positioniert sind, damit sie nicht von den Flammen verkohlt werden. So richtig gar werden sie so aber auch nicht. Schließlich ist seine Geduld ausgereizt und er gibt den Jungs den Hinweis, aus schmaleren Hölzern einen Grill über der Glut zu bauen, damit darauf die Würstchen knusprig gebraten werden. „War das ein angebrachter Tipp oder hätten die Boyz das auch irgendwann selbst herausgefunden?“, fragt sich Tobi.
Generell fällt es ihm schwer, sich mit Tipps zum Camping in der Wildnis zurückzuhalten, weil er es selbst schon häufig praktiziert und einige Hinweise bekommen hat, die ihm weitergeholfen haben: Essensreste oder Zahnpastareste ziehen Tiere an, Hunde mögen Schuhe, ins Café immer das Ladekabel zum Laden und die Wasserflasche zum Auffüllen mitnehmen. Tobi entscheidet sich für den Mittelweg: Einfach als Beispiel dienen, in der Hoffnung, dass sich die Jungs das abschauen und fürs nächste Mal merken. Wie es ausgeht? Im Café gibt er sein Ladekabel nach der Hälfte der Zeit aktiv ab, um das „Expi-Handy“ zu laden. Die Hunde machen es sich in unserem Camp so richtig bequem und das Wasser aus der Leitung schmeckt den meisten nicht, weil es einen leichten Chlorgeschmack hat.
Am Morgen in Drake Bay stellt die Gruppe fest, dass wir hier an einem ziemlich abgeschiedenen Ort gelandet sind und es sich ziemlich schwer gestaltet, hier wieder wegzukommen. Das Boot zurück nach Sierpe ist zu teuer für unser restliches Budget, der Bus fährt nicht, weil Sonntag ist und per Anhalter fahren, wird auch schwierig mit sieben Leuten und viel Gepäck. Also fragen die Jungs im Dorf herum, welche Möglichkeiten es gibt, hier wieder wegzukommen. Der erfahrene Radreisende Tobi wundert sich, warum die Boyz nicht mehr im Voraus planen, wie sie von einem Ort zum anderen kommen. Bob denkt sich nur: „Die Jungs wollten nun mal unbedingt die Mangroven Tour machen und wir sind hier echt im Paradies. Hier halten wir es auch noch etwas länger aus und irgendeine Möglichkeit wird sich schon ergeben.“ Nach ein paar Stunden Herumfragen im Dorf kommen die Jungs umso begeisterter und stolz auf ihr erfolgreiches Organisationstalent zurück zum Camp mit mehreren Optionen im Gepäck. Bob meint selbstbewusst zu Tobi: „Realisierst du, wie diese Begeisterung und die breite Brust der Jungs die fehlende Vorausplanung um einiges übersteigt!?“ Wir einigen uns auf eine Pritschenfahrt am nächsten Morgen um 6 Uhr und genießen einen vollen Tag am Strand.
Nach dem entspannten Nachmittag am Strand und im Wasser ist der Bedarf nach einem reichhaltigeren Abendessen groß. Da kommt es umso gelegener, dass uns der Vater eines ehemaligen High Seas Schülers, der seinen Sohn Tom in Costa Rica besucht [wir trafen beide schon kurz in Longo Mai], zu selbstgebratenen Eiern mit Wurst einlädt.
Als wir auf den Essens-Service vor dem Hostel der beiden warten, startet eine rege Diskussion über die Fridays for future Bewegung. Es werden die unterschiedlichen Standpunkte zu den Klima-Demos ausgetauscht (Zitat: „Wir haben die FFF-Demo einmal genutzt, um bei McDonalds essen zu gehen.“). Bob reflektiert und fragt sich, ob er 2008 die gleiche Meinung gehabt hätte, wie manche der Jungs heute. So wie sein damaliges Umfeld ihn prägte – vermutlich schon. Der Politik-Lehrer Tobi muss sich zurückhalten, die Aussagen nicht direkt zu bewerten und Kriterien zuzuordnen, sondern versucht, auf sachliche Art die Dringlichkeit des Umdenkens und Umlenkens der Politik hinsichtlich der Klimakrise deutlich zu machen.
Am Lagerfeuer des gleichen Abends wird über sehr viel Privates gequatscht. Es wird folgende, tiefgründige Frage in die Runde geworfen: „Wenn du einen – noch so utopischen – Wunsch frei hättest, welcher wäre das?“ Nach längerem Überlegen kommen als Antworten: „Ich möchte, dass die Klimakrise gestoppt wird, sodass wir nicht mehr um unsere Zukunft auf diesem Planeten fürchten müssen.“ Daran bemerkt Tobi einerseits, wie belastend die Klimakrise für die Jugendlichen ist, und anderseits, wie altruistisch dieser Wunsch doch ist. Auch der zweite Wunsch in der Runde: „Kein Mensch auf der Welt sollte mehr hungern, sondern all seine Grundbedürfnisse erfüllt haben“, geht in eine genauso selbstlose Richtung. Bob hätte 2008 vermutlich einen deutlich egoistischeren Wunsch geäußert. Außerdem schließt sich der Kreis zur FFF-Diskussion ein paar Stunden zuvor und spiegelt die vielfältigen Ansichten der gesamten Gesellschaft zum Umgang mit der Klimakrise wieder. Ein für mich besonders prägendes Zitat wird erst am Ende dieses Blogeintrags veröffentlicht.
Am nächsten Morgen geht’s früh aus den (Schlafsack-)Federn, um mit einem Pritschenwagen durch die wunderbare Natur der Halbinsel in Richtung Puerto Jimenéz zu gelangen. Wir fahren über Stock und Stein und durch einige Flüsse hindurch, sehen große rote Papageien, besonders farbenprächtige Schmetterlinge und bekommen nebenbei viel frische Luft um die Nase, was allen recht guttut. Auf den offiziellen Landstraßen ist eine solche Art der Fortbewegung natürlich nicht erlaubt, deswegen endet unsere Fahrt nach ca. zwei Stunden Natursafari in der kleinen Stadt Palma.
Von dort aus will die Gruppe eigentlich den Bus in Richtung Puerto Jimenéz nehmen. Die Menschen vor Ort hatten uns aber alle jeweils unterschiedliche Abfahrtszeiten genannt. Vor allem bei Angeboten zum Transport in Richtung Küste verschiebt sich die genannte Abfahrtszeit mehr und mehr nach hinten. Tobi ahnt schon, dass dies vermutlich eine Strategie ist, um uns die Dringlichkeit eines Taxi-Transports zu verdeutlichen. Als der mit weiter Goldkette beschmückte Tony mit seinem roten Toyota-Offroad-Pickup ankommt und uns eine Fahrt für 70 $ anbietet, werden Tobis Zweifel nochmal verstärkt. Er hält sich aber zurück und die Jungs lassen sich auf einen Deal von 40 $ ein, um eine halbe Stunde Taxi-Fahrt in die nächstgelegene Stadt zu bekommen. (Vorher hatten wir für zwei Stunden Pritschenfahrt bereits 80 $ ausgegeben).
Im Auto erzählt Tony von seinem Restaurant in Puerto Jimenéz und wie unschlagbar günstig die Preise dort im Vergleich zu anderen sind. Er wirft mit einigen Zahlen um sich, was den Mathe-Lehrer Tobi einerseits freut. Anderseits wird ihm bewusst, wie unrealistisch die Preise sind. („Ihr bezahlt mindestens 300 $ bis zur Grenze Panamas, aber ich könnte euch einen besseren Preis anbieten.“) Kurz bevor wir die Stadt erreichen, hält er bei einem Kumpel an und stellt uns sein Anwesen mit Cabinas vor, in denen wir übernachten könnten. Sie unterhalten sich auf sehr schnellem Spanisch über unsere Situation und er macht einen Freundschaftspreis für uns aus. „Für den Preis bekommt ihr in der Stadt auf keinen Fall etwas Vergleichbares für sieben Personen.“
Die Jungs beraten sich, werden aber auch dadurch unter Druck gesetzt, dass der Taxifahrer auf unsere Entscheidung warten muss und seinen Satz von oben mehrmals wiederholt. Außerdem geht es Lux gesundheitlich in dem Moment nicht besonders gut, sodass er nach drei Tagen wildcampen definitiv einen Ort zum Entspannen und mit einer vernünftigen Sanitärausstattung gebrauchen kann. Sie lassen sich schließlich auf den Deal ein, äußern aber im Nachhinein: „Ich mag es nicht, solche Entscheidungen unter Druck treffen zu müssen, ohne vernünftig abwägen zu können.“ Tobi hatte den Geschäftsmann Tony relativ schnell als ziemlich manipulativ und gewinnorientiert wahrgenommen, aber die Jugendlichen sollen lernen, im Sinne des restlichen Budgets zielführend mit ihm und seiner Verkaufsstrategie umzugehen. Im Endeffekt tut uns der Deal vor allem körperlich gut, weil alle in den recht bequemen Betten mehr als 13 Stunden schlafen.
Die letzte Auseinandersetzung zwischen Tobi und Bob ereignet sich beim Grenzübergang zwischen Costa Rica und Panama. Tobi ist bewusst, dass dieser relativ zeitaufwändig sein wird und die Grenze in der Regel um 17 Uhr schließt. Wir kommen überpünktlich mit dem Bus in Paso Canoas an und die Jungs wollen erstmal ihre restlichen Colones ausgeben, weil sie diese Währung danach nicht mehr nutzen können. Die Shopping-Tour zieht sich aber etwas in die Länge, wird durch Klogänge erweitert und endet im Restaurant direkt am Busbahnhof mit einer ausgiebig zelebrierten Fanta, um möglichst viele schöne Colones-Scheine für die eigene Sammlung gewechselt zu bekommen. Tobi wird innerlich schon besonders unruhig, weil wir bereits ein Hostel in David gebucht haben.
Als wir dann auf eine unserer anderen Expi-Gruppen stoßen, werden natürlich erstmal Erfahrungen ausgetauscht, was unseren Grenzübertritt weiter verzögert. Als dann der Hinweis auf die Zeitverschiebung zwischen Costa Rica und Panama fällt und es dadurch in Panama eine weitere Stunde später ist, reißt Tobis Geduldsfaden. Bob erinnert ihn an die Situation in San José: „Vermies´ ihnen nach der Pizza nicht auch noch ihre gemütliche costa ricanische Fanta.“ Zum Glück übernimmt Lux dann das Kommando und leitet die Gruppe an. Tom sieht zufällig, dass wir noch eine Gebühr zahlen müssen, um über die Grenze zu dürfen, sodass das Auschecken aus Costa Rica noch pünktlich vonstattengeht. Das Einklarieren in Panama verzögert sich dann aber, da die Polizist:innen uns etwas warten lassen, bis wir die Stempel in unseren Pässen bekommen. Als wir unsere Hände zum Scannen unserer Fingerabdrücke auflegen müssen, fragt Dad-Joke-Tobi, ob die Grenzpolizist:innen ein „hands“ ausgerufen hätten und kassiert glatt ein „hands“ dafür.
Im BlueRock Hostel in Davíd treffen wir dann zufällig auf die Expi-Gruppe von Sina und tauschen uns über unsere Erfahrungen der letzten Woche aus. Die Jungs erzählen den anderen, dass ich einiges mit ihnen durchmachen musste. Ich genieße es sehr, ihren weiteren Erzählungen zuzuhören, weil ich mehr und mehr merke, dass ich im Laufe der vergangenen sieben Tage Teil der „Boyz-Gruppe“ geworden bin und mich nicht nur ihrem Humor und teilweise auch ihrem Sprachstil angepasst habe.
Als Abschluss dieser sehr erlebnisreichen Reise lassen Tobi und Bob die Woche nochmal Revue passieren: Die größte Herausforderung war es, die Balance zwischen Tobis pädagogischem aber auch planerischem Eingreifen und Bobs jugendlichem Entdeckergeist zu finden. Die Diskrepanz der unterschiedlichen Rollenerwartungen zwischen dem High Seas Crew Mitglied Tobi, der die Projektregeln und Werte von High Seas im Hinterkopf hat und dem Sechszehnjährigen Bob, der sich mit seiner jugendlichen Leichtigkeit und Begeisterung für Unerwartetes sowie dem Einlassen auf den Humor und den Sprachstil der Boyz als Teil der Gruppe fühlt.
Ich kenne die sechs „Boyz“ jetzt auf jeden Fall viel besser als vorher, kann ihr Verhalten – dank Bob – noch besser nachvollziehen und bin sehr froh, während der Expi viele wunderbare, amüsante, einprägsame und auch herausfordernde Momente mit ihnen geteilt zu haben. Folgendes Zitat von Felix, das mir aus dieser Woche besonders in Erinnerung bleiben wird, nehme ich als positives Feedback des Ausbalancierens auf: „Was ich nach High Seas vermissen werde ist, mit meinem Mathelehrer am Lagerfeuer zu hocken und total viel über sein Leben zu erfahren sowie einiges aus meinem Leben mit ihm zu teilen.“
Das angesprochene Austarieren meiner zwei Persönlichkeiten hat mir meine Expi-Gruppe in diesen acht Tage sehr leicht gemacht, wofür ich Lux, Tom, Ben, Freddy, Paul und Felix sehr dankbar bin. Ich wusste während der gesamten Zeit, dass ich mich auf die sechs Jungs verlassen konnte und sie es sehr wertgeschätzt haben, die Organisation und Verantwortung für ihre Expi selbst zu übernehmen.
Jetzt kann ich auch noch viel treffender nachvollziehen, wie sich Eltern mit Kindern in diesem Alter fühlen. Das Loslassen und Losschicken in die Selbständigkeit und Verantwortung für die eigene Lebensgestaltung muss für Erziehungsberechtigte alles andere als einfach sein. Die Eltern der High Seas High School Schüler:innen haben mit der Anmeldung zum Projekt einen ersten wichtigen Schritt dahin gemacht.
Meine Erfahrungen aus diesen Tagen rufen sehr laut danach, den Kindern dieser Welt noch viel mehr zuzutrauen, statt ihre Kompetenzen kleinzureden. Sie darüber hinaus die Welt selbst entdecken zu lassen, statt sie nur zu belehren, ihnen noch viel mehr Verantwortung zu übertragen, politische oder gesellschaftliche Veränderungen mitanzustoßen, statt sie stetig abzuwürgen („das war schon immer so“). Denn nur dadurch lernen sie, damit umzugehen, und sind vorbereitet, unsere Zukunft zu gestalten. Wir Erwachsenen sollten die Welt häufiger durch die Brille der Kinder und Jugendlichen sehen. Mit ihrer tiefliegenden Empathie, Begeisterungsfähigkeit, Entdeckergeist, Leichtigkeit, ihrer gesamten kindlichen Genialität. Also: „Gebt den Kindern das Kommando, sie berechnen nicht, was sie tun. Die Welt gehört in Kinderhände. Dem Trübsinn ein Ende. Wir werden in Grund und Boden gelacht.“
Die Wünsche der Jungs am Lagerfeuer haben mir gezeigt, was für eine gemeinwohl-orientierte, altruistische Werteeinstellung sie innehaben. Ein Wertefundament, das unserer Weltgemeinschaft momentan besonders guttun würde. Wir sollten diesen Kindern und Jugendlichen meiner Meinung nach viel mehr Gehör schenken und Einfluss zugestehen, weil sie besonders daran wachsen und es sie motiviert und begeistert, wenn sie merken, dass sie die Welt mitgestalten und beeinflussen können. Ganz nach Herbert Grönemeyers Motto – „Kinder an die Macht“ (Liedtext vom letzten Abschnitt).
Tobi
PS: Big Shout-out an Tom, unserem Finanzminister. Er hat immer den Überblick über das Budget bewahrt, sich nicht aus der Ruhe bringen lassen, Tipps und Hinweise zu den Kostenpunkten gegeben und trotzdem die gesamte Gruppe entscheiden lassen, wofür sie Geld ausgeben will. Diese Rolle hast du sehr erfolgreich und für alle zufriedenstellend ausgeführt. Vielen Dank dafür.
PPS: Shout-out an alle gesundheitlich Angeschlagenen in unserer Gruppe, die sich sehr eigenverantwortlich ihre Ruhephasen genommen haben, statt Aktivitäten mitmachen zu wollen, und die Expi-Woche trotzdem komplett durchgezogen haben. Shit happens! Gute Besserung.
Grüße an meine Schwestern, die mir damals den liebevollen Spitznamen TobiBob gegeben haben und die ich mit ihren kleinen Familien in meinem Leben nicht missen möchte. An alle von der Hermann-Lietz Schule Spiekeroog, die vermutlich mit am besten nachvollziehen können, wie ich mich auf den Expis gefühlt habe, da sie vergleichbar sind mit dem Alltag in den Schulfamilien.
An alle Eltern da draußen: Erstmal allergrößten Respekt, was ihr an unbezahlter Erziehungsarbeit für unsere zukünftige Generation macht. Nehmt euch gerne Herberts Motto zu Herzen: Gebt den Kindern das Kommando! Besondere Grüße an die Familien meines Cousins und Jugendfreunds Hendrik, der gerade frisch gebackener Papa geworden ist. Herzlichen Glückwunsch auch auf diesem Wege.