28. April 2022 Kein Einzelfall – Das System hinter sexualisierter Gewalt

Datum: 28. April 2022
Position: 53°00.004’N   4°24.690‘O
Kurs: 340°
Bisher zurückgelegte Seemeilen: 15.199,76 nm
Wind: Norden, Windstärke 1/2
Wetter: bewölkt, grauer Himmel · Temperatur: 9°C
Gesetzte Segel: main stay sail, main sail
Geschwindigkeit: 2,7 Knoten
Stimmung an Bord: schöne Stimmung mit viel Liebe, aber auch ein bisschen Packstress und eine Fern- und Heimweh-Mischung

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Kein Einzelfall –
Das System hinter sexualisierter Gewalt

 

Disclaimer:
Wir befinden uns in der Endzeit dieser Reise und verlieren uns schon jetzt hin und wieder in den Erinnerungen an die letzten knapp sieben Monate. Eine besonders einprägsame Erinnerung habe ich versucht in diesem Blogbeitrag zu verpacken, vielleicht auch ein stückweit zu verarbeiten. In diesem Text steckt viel Schock, viel Frust, viele Tränen und viel Wunsch nach Veränderung. Es hat Zeit gebraucht, bis ich das Gefühl hatte, der Text ist fertig genug um veröffentlicht zu werden. Nächte lang habe ich versucht, meine Erlebnisse und Gedankengänge in Worte zu fassen, und jetzt, nach einigen malen Korrektur- oder einfach nur Drüberlesen und fast zwei Monate später ist es so weit.

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Hey,

ich spreche vor diesem Blogbeitrag ganz bewusst eine Triggerwarnung aus. Es wird um sexualisierte Gewalt, Belästigung und Übergriffe gehen. Wenn du mit diesen Themen Probleme oder belastende Erfahrungen gemacht hast, überlege dir bitte genau, ob du diesen Text lesen möchtest und wenn ja, lese ihn am besten mit einer vertrauten Person. Du kannst natürlich auch jederzeit aufhören zu lesen. Niemand macht dir einen Vorwurf, wenn du dich gegen das Lesen entscheidest!

Ganz unten findest du Hilfe, wenn du nach einer Anlauf- oder Beratungsstelle für Betroffene suchen willst. (und ein paar im Text verwendete Quellen)

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An die, die sich fürs Lesen entscheiden:
los geht’s!

Ich möchte euch gerne eine Geschichte erzählen.
Ich heiße Eva und bin 15 Jahre alt. Am Freitag, den 5. März 2022 saß ich mit Natalia in einem Park in Kuba auf einer Bank. Es war der zweite Tag, an dem wir die Stadt erkunden durften und wir waren vorher eine Stunde durch die kleinen Sträßchen außerhalb des Stadtzentrums geschlendert, hatten Gemälde bestaunt, Häuserfassaden bestaunt, das Leben bestaunt. Kurz gesagt: uns ging es gut. Wir hatten uns auf dieser Reise gefunden und teilten neben der Liebe zu Kuchenrandstücken und Pyjamapartys oft die gleichen Gedanken, aber eben auch das gleiche Verständnis von Tourismus.

Nun saßen wir also auf dieser Bank, hatten die Schuhe ausgezogen, redeten über zu Hause, über Liebe, über Freundschaften und mit den Kindern, die im Park spielten. Gegenüber von uns ein Mensch, schätzungsweise 60, vielleicht älter, hatte eine weiße Plastiktüte vor sich stehen. Er saß dort auf dem Wegrandstein, schaute oft zu uns rüber, bot uns Zigaretten an, aber war auch nicht aufdringlich, als wir sie ablehnten. Er hatte graue, lange, lockige Haare, die als Zopf aus seiner grün-schwarzen Kappe rausschauten. Und er trug ein grellblaues Trikot mit orangefarbener Schrift, eine Sporthose in etwas hellerem Blauton und mit neonorangenem Rand an den Hosenbeinen. Braungebrannte Haut, eigentlich mager, nur der Bauch war rund. An das Gesicht, die faltige Haut, die braunen hervorstehenden Augen, den kurzen grauen Bart konnte ich mich erst 24 Stunden später wieder erinnern, als ich anfing, alles was passiert war, meinem Tagebuch anzuvertrauen. Ich wusste noch nicht, wie oft ich diese Personenbeschreibung in den nächsten Stunden von mir geben würde.  

Aber jedes Mal, wenn ich es erzählte, kam mir vor allem ein Bild in den Kopf. Als ich im Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm, diesem Reflex folgend meinen Blick von Natalia abwandte und nach links unten schaute, sah ich ein Bild, das ich nicht mehr vergessen konnte – egal wie groß der Wunsch danach sein würde. Ich sah seine blaue Hose bis zur Leiste hochgezogen, seine blasse Haut darunter und seinen Daumen und Zeigefinger, die seinen harten Penis berührten. Ich wusste von da an, was Menschen meinen, wenn sie sagen, ein Bild hat sich »eingebrannt«. Ich schaute zu Natalia in ein Gesicht voll Schock, der vielleicht meinen eigenen spiegelte. Es gelang mir nur bedingt, ihr zu erklären, was ich gerade gesehen hatte. Als sie verstand, schauten wir beide nochmal zu dem Menschen rüber, der mittlerweile die Einkaufstüte zwischen seine Beine gestellt hatte.

Wir einigten uns auf gehen. Wollten raus, einfach nur raus aus dieser Situation oder vielleicht viel eher aus dieser Gesellschaft, aus dieser Welt. Aber auch wenn wir aufstanden, verstört und betäubt von Schock unsere Schuhe und Taschen griffen und gingen, entkamen wir weder der Welt noch der Gesellschaft. Nur der Situation. Wir brauchten Zeit zum Verstehen. Denn die ersten 20 Minuten verstanden wir gar nicht. Wir liefen, bis wir einen Pier fanden und setzten uns dann dort ans Wasser. Redeten über generelle Erfahrungen, die wir oder Freund:innen in der Vergangenheit gemacht hatten, aber schoben diese Erfahrung so weit von uns weg, bis wir auch da das Gefühl hatten, es sei vielleicht entfernten Bekannten passiert.

Nach 20 Minuten kam der Drang nach Vergeltung in uns auf. Wir wurden sowieso von Einheimischen darauf hingewiesen, dass die Stelle, auf der wir saßen, einbruchsgefährdet sei und nutzten diesen gezwungenen Aufbruch, um Lusinja, unsere Spanischlehrerin zu suchen. Wir liefen so schnell und hektisch durch die Straßen wie Menschen, die ein Ziel haben, nur noch nicht wissen, wo es sich befindet und trafen auf Vici, die Spanischlehrerin der Anfänger:innen.

Und im Nachhinein glaube ich, dass wir in diesem Moment erst angefangen haben, zu begreifen. Erst als wir in Worte fassten, was uns passiert war; erst als wir uns selber sagen hörten, dass wir gerade zu Opfern sexueller Belästigung geworden waren, erst als es nicht mehr nur unsere eigene kleine Geschichte war, sondern wir sie miteinander und mit Vici teilten, löste sich diese Nebelwand aus Schock auf und Gefühle wie Verzweiflung, Wut, Ungerechtigkeit und Rachelust überrollten uns. Als Vici uns erklärte, dass wir nicht zum Park zurückkonnten und diesen Menschen nicht zur Rede stellen durften, hatte ich das Gefühl, versagt zu haben. Ich erzählte Vici unter Tränen, dass ich und mein Bruder uns versprochen hatten für eine Welt zu kämpfen, in der unsere einjährige Nichte keine Angst davor haben braucht, Opfer von sexualisierten Übergriffen zu werden. Dafür hatte ich nichts getan. Denn wir sind aufgestanden und gegangen. Und wir waren leise. Wir haben einfach ertragen. Ich wäre gern ein Vorbild für die Kinder, die auch auf dem Platz waren, gewesen. Aber auch dafür hatte ich nichts getan. Wir sind aufgestanden und gegangen. Wir haben diesen Kindern gezeigt, wenn Menschen einem unerwünscht ihre Genitalien zeigen, ist man leise, erträgt man einfach.

Vici riet uns, dass wir uns für die nächste Stunde auf andere Gedanken bringen sollten, uns ein bisschen abzulenken. Danach wollten wir uns eh alle zum Abendessen treffen. Wie wahrscheinlich vorstellbar, fiel uns das erdenklich schwer. Wir setzten uns auf eine Bank in der Einkaufsstraße und hassten die Blicke der vorbeilaufenden Männer, die uns förmlich verschlangen. Und wir hassten die Menschen, die uns in der Vergangenheit vorgeworfen hatten, einfach bisschen zu sensibel in dem Thema zu sein und manche Dinge einfach falsch zu deuten. Und wir hassten die Menschen, bei denen wir jetzt schon ahnten, dass, wenn wir es ihnen erzählten, sie uns heute bemitleiden und es morgen vergessen würden. Menschen, die nicht verstehen würden, dass es hier nicht primär um unsere Situation ging, sonders es 1. ein Sinnbild für Millionen gleiche war und 2. nur die Spitze des Eisbergs – nur der sehr offensichtliche Teil des Problems.

Als wir uns später dann auf dem Platz mit allen zum Abendessen trafen, gingen wir direkt auf Lusinja zu. Nachdem wir auch ihr die Situation geschildert hatten und erneut von einer Welle der Realisation überfallen wurden, besprachen sich die Lehrer:innen erstmal über das weitere Vorgehen. Zu den eh schon überforderten Emotionen gesellten sich nun Frust und Fassungslosigkeit über die Gleichgültigkeit der anderen. Es fühlte sich an, als hätte nur Peggy wirklich Zeit und Lust gehabt sich unsere Geschichte anzuhören, unsere Gefühle zu sehen, unseren Schock aufzufangen. Und sie hörte zu, ließ uns reden und realisieren, reden und verstehen, reden und einfach unendlich wütend und fassungslos sein. Und sie ließ uns nicht allein. Später erfuhr ich, dass viele andere auch gerne geholfen hätten, aber entweder nicht wussten wie oder (im Fall der Pädagog:innen) nicht die Kapazitäten hatten. Es musste sich ja auch noch um 42 andere hungrige Jugendliche gekümmert werden.

Als wir ins Restaurant gingen, verschwanden Natalia und ich direkt ins Badezimmer, nicht bereit für oberflächliche Tischgespräche, wo wir alle unsere Energie doch für so viel dringlichere Themen verwenden könnten. In diesem Badezimmer ließen wir unseren Emotionen freien Lauf. Die rot-schwarz marmorierten Fliesenwände bekamen so einige Schläge und Tritte ab. Wobei man auf den ersten Blick vielleicht denken könnte, dass sich diese Wut gegen diesen Menschen, der uns im Park seinen erigierten Penis gezeigt hatte, richtete, aber mir ging es viel eher um die Gesellschaft, die sowas akzeptiert. Die Menschen beibringt, bei sowas wegzuschauen, sowas hinzunehmen und zu schweigen. Das alleine zu verarbeiten, sich alleine zu ekeln und nicht vor dem Menschen, der dieses Gefühl in einem hervorgerufen hat, sondern vor allem vor sich selbst und dem eigenen Körper. Ich kann es nicht besser in Worte fassen, als Natalia es auf dem Platz im Gespräch mit Peggy getan hatte. Als Peggy fragte, wie wir aus der Situation rausgekommen sind, sagte sie „Mit Scham, Peggy! Mit Scham! Wir haben uns geschämt, Peggy! Warum müssen wir uns schämen?“.

Als wir nach Hause zum Schiff gingen, setzte die Taubheit ein, die mich die nächsten Tage begleiten würde. Auf dem Rückweg sah ich Polizeibeamte. Als Natalia, Lusinja und ich sie ansprachen und die Situation erklärten, riefen sie ein Polizeiauto, dass uns zur Polizeistation bringen sollte. Erst eine Woche später erfuhr ich, wie unberechenbar diese Situation für Lusinja war, da nicht absehbar war, wie ernst sie uns nehmen würden und ob Beklagungen dieser Art uns nicht in Gefahr bringen könnten. Fünf Minuten später holperten wir in einem Polizeiauto durch die laternenbeleuchteten Straßen, zu dritt auf der harten Plastikrückbank für zwei. Wir unterhielten uns leise, Natalia und ich hielten uns aneinander fest.

Die Polizeistation war kahl eingerichtet, die Anzeige wurde ernster genommen als gedacht, zuerst handschriftlich aufgenommen und dann nochmal in einen Computer eingetippt. Es ist unklar, aber zu befürchten, dass sie uns vor allem so ernst genommen haben, weil wir Touristinnen sind. Der Polizeibeamte, der unsere Anzeige handschriftlich aufnahm, erklärte uns, es gebe auf Kuba höhere Strafen für Menschen, die Tourist:innen belästigen, als für jene, die Einheimische belästigen. Zu diesem Zeitpunkt waren meine Gefühle so unendlich weit weg und ich verlor jegliches Zeitgefühl. Als wir wieder im Polizeiauto auf dem Weg zurück saßen, wartete ich nur noch auf das Gefühl aus einem viel zu realistischen Traum aufzuwachen. Aber ich wachte nicht auf. Ich kam zurück aufs Schiff, kann mich nur wenig an den Abend erinnern und ging schnell schlafen.

Am nächsten Morgen mussten wir früh aufstehen. Um 5.30 Uhr wurde ich aus meinem traumlosen Sekundenschlaf gerissen und dann funktionierte ich einfach nur, war einfach nur Teil der Masse, ließ mich mitziehen und machte, was von mir erwartet wurde. Ich hasste diese Masse für die Blindheit gegenüber diesem riesigen Thema, war ihnen aber auch dankbar, weil ich wusste, dass ich ohne sie einfach liegen geblieben wäre. Ich ließ mich die ganze Zeit von Podcasts berieseln, hörte anderen Gedanken zu, weil meine eigenen vom Selbstschutz verschluckt wurden. Als wir an Land auf die anderen warteten, durfte ich mit meiner Mama telefonieren. Die Emotionswelle traf mich dieses Mal nicht so unvorbereitet und äußerte sich vor allem in Tränen. Ich war froh, es meiner Mama so früh erzählen zu können, da ich Angst hatte, diese Geschichte würde sonst immer mehr in die Taubheit hinein verschwinden. Mit jeder Person, der ich davon erzählte, wurde es ein bisschen mehr wahr, ein bisschen mehr ungerecht. Die Busfahrt zum See verschlief ich, die Überfahrt mit den Booten auch so gut wie. Auf der Wanderung war ich noch schlaftrunken genug, um nicht über gestern nachzudenken. Als wir wieder auf die kleinen Boote gingen, waren auf dem Vordeck, dem Ort an dem ich vorher so schön allein sein konnte, auf einmal ganz viele. Der Platzmangel machte mich panisch, Berührungen mit anderen wütend. Ich hatte das Gefühl, zurückgerissen zu werden aus meiner Bubble der Verdrängung. Und dann im Bus konnte ich nicht mehr verdrängen, weinte ohne zu schluchzen, fühlte einfach nur stumm, wie Tränen meine Maske durchnässten. Ich wusste nicht mal, um was ich weinte. Vielleicht einfach um die Ungerechtigkeit.

Auf der Finca angekommen redete ich nochmal mit Peggy. Ich versuchte ihr mit folgender Metapher meine Gefühle greifbar zu machen: Ich fühlte mich, als ob wir alle normalerweise an der Oberfläche eines Sees treiben. Der See steht hierbei für die gesellschaftlichen Probleme. Wir wissen also, dass sie da sind, aber sind nicht so stark von ihnen betroffen, dass wir das alles um den See herum noch genießen können. Vielleicht profitieren wir von der Existenz dieses Sees sogar. Aber wir können an der Oberfläche atmen, entspannen, Energie tanken und klare Gedanken fassen. Uns geht es dort so gut, dass wir oft vergessen, was der See in sich birgt. Aber dieser Mensch im Park hatte mich am Fuß gepackt und unter Wasser gezogen. Und in diesem Moment fehlte mir die Luft zum Atmen, in diesem Moment sah ich einen Teil, auch wenn es nur ein kleiner war, von dem, was der See in sich versteckt und festhält. Und ich sah die Beine der anderen, die kurz unter der Oberfläche strampelten und trieben. Ich wusste, dass mich diese Hand nicht lange festhalten würde, dass ich bald wieder ganz von selbst an die Oberfläche auftreiben würde, wieder Luft bekommen würden, wieder genießen würde, was um den See rum so existiert und dass ich genauso blind sein würde für das Leid der Menschen unter Wasser wie die an der Oberfläche. Aber in diesem Augenblick fand ich es einfach nur perfide. Perfide und ignorant, wie wir, die meistens nicht so aktiv von den Problematiken betroffen sind, die die Energie hätten, was dagegen zu tun aber lieber unser eigenes kleines Glück genossen. Und dann erzählte Peggy. Und ich hörte zu und weinte und weinte. Hatte das Gefühl, dass meine Tränen im Gegensatz zu mir unerschöpflich waren. Denn ich wurde so langsam endlos müde.

Einer der Menschen von Bord ließ zwei Tage später in einer größeren Runde die Bemerkung fallen, dass es vielleicht einfach unsere Schuld sei, dass wir sexuell belästigt wurden und es eben dumm sei, sich so anzuziehen, wie wir uns angezogen hatten. Als Natalia ihn kurz darauf damit konfrontierte, sagte er, dass er uns nicht die Schuld daran geben wollte, sondern lediglich überlegt hatte, wie diese sexuelle Belästigung zu Stande gekommen sei und wie man sie hätte vermeiden können. Später schob er die Schuld dann auf die Kultur und beschrieb diese als „zurückgeblieben“, eine Theorie, auf die er auch eine Woche später, als ich in der Galley mit ihm diskutierte, pochte.

Also first things first: Es ist nie (!) jemand selbst Schuld, Opfer sexueller Belästigung geworden zu sein. Das Denken, dass die Wahl der „richtigen“ Klamotten Menschen vor sexualisierter Gewalt schützen kann, ist genauso weit verbreitet wie faktisch falsch.

Im Beispiel Vergewaltigung gibt es ein eindrucksvolles Video namens „Männerwelten“ [1] von Joko und Klaas – gerne mal anschauen und wirken lassen. Ansonsten gibt auch die Ausstellung im Le Centre Communautaire Maritime (Brüssel) einen genauso guten Einblick in die Thematik. Dort werden 18 nachgestellte Outfits ausgestellt, welche die Opfer trugen, als sie vergewaltigt wurden. Ich zitiere frei aus einem Artikel von Global Citize [2]: „Unter den Kleidungsstücken befinden sich Kleider, Polo-Shirts und Jogginghosen, Schlafanzüge und auch ein T-Shirt, das ganz offensichtlich einem Kind gehört. Schnell wird klar, dass der Gedanke, bestimmte Kleidung führe zu Vergewaltigung, nichts anderes als ein Trugschluss sein kann. (…) Das Ergebnis [der Ausstellung] ist eine eindrucksvolle visuelle Ablehnung der Vorstellung, dass die Kleidung des Opfers selbst auf eine Art und Weise mitverantwortlich für den Übergriff wäre.“

Delphine Goossens, die beim Le Centre Communautaire Maritime arbeitet, sagt in einem Interview: „Wir sagen unseren Töchtern und jungen Mädchen immer noch, dass sie darauf achten sollen, was sie tragen, aber wir sagen den Jungen nicht, dass sie niemanden missbrauchen sollen. Wir wollen, dass die Menschen verstehen, dass eine Frau tragen kann, was sie will. Kleidung ist niemals ein Grund, um attackiert zu werden. Das ist, was die Ausstellung vermitteln will: Kein Outfit provoziert oder verhindert Vergewaltigung.“

Nun sehen wir also, dass Kleidung kein Einflussfaktor ist und die Frage nach der Kleidung dem Opfer eine ungerechtfertigte Mitschuld gibt. Das gleiche gilt laut dem Frauennotruf Kiel übrigens für Orte, an denen Opfer sich aufhalten und Uhrzeiten. Auch das sind Punkte, die oft hinterfragt werden und den Betroffenen eine automatische Mitschuld geben. Sidefact dazu vom Frauennotruf Kiel [3]: „Die meisten Vergewaltigungen passieren in der Familie oder durch Bekannte. Der/die Täter:in ist oft Ehe-Mensch oder Freund:in des Opfers bzw. jemand, den das Opfer gut kennt. Vergewaltigungen können zu jeder Uhrzeit passieren und oft ist die Vergewaltigung auch vorher geplant.“

Wenn wir mit diesen Informationen also die genannte Theorie weiterdenken, was wären denn dann die Konsequenzen daraus? Denn vor dem Hintergrund, dass Übergriffe nicht kalkulierbar sind, quasi immer und überall stattfinden können, müssten mögliche Betroffene sich auch immer und überall einschränken. Zumal es den Fokus auf die falschen Menschen legt. Denn die Betroffenen machen nichts falsch und sollten dementsprechend auch nicht die Konsequenzen tragen müssen. Ganz generell ist diese Herangehensweise fragwürdig, denn sie beschäftigt sich mit dem Symptom eines Problems, anstatt mit dem Ursprung und bedeutet mehr Freiheiten für Täter:innen und Einschränkungen für Opfer.

Mein Wunsch an uns alle ist, lasst uns unser Denken und Handeln kritisch hinterfragen. Auch die Sachen, die aus Liebe und Sorge passieren, können negative Auswirkungen haben. Wenn ihr eure weiblich sozialisierten Kinder einfach nur schützen wollt, deswegen denkt „zu knappe“ T-Shirts oder „zu enge“ Röcke kommentieren oder verbieten zu dürfen, überlegt, inwiefern ihr schadet oder helft. Inwiefern ihr ein mögliches Mitschuld-Gefühl oder Angst über erlebte sexualisierte Gewalt zu sprechen, nährt oder ein Umfeld schafft, in dem sich Betroffene geborgen und verstanden fühlen dürfen. Das gleiche gilt für Uhrzeiten, zu denen weiblich und männlich sozialisierte Jugendliche zu Hause sein sollen oder an welchen Orten sie sich alleine aufhalten dürfen. Ihr wollt für eure Liebsten nur das Beste, das verstehe ich. Aber ungerechtfertigte Scham und angebliche Mitschuld sind das Gegenteil davon.

Kleine Fußnote:
Das Denken, es gäbe fortgeschrittene und zurückgebliebene Kulturen ist allgemein kritisch zu sehen. Vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte muss das, denke ich, nicht viel weiter erläutert werden. Das ist allerdings ein anderes Thema. Das „Argument“ ist aber auch deshalb nichtig, da sexualisierte Gewalt nicht auf einzelne Kulturen zurückzuführen ist, sondern auf gesamtgesellschaftliche, tief verankerte und strukturell sexistische Denkmuster, die in jeder Gesellschaftsschicht und geographischen Region der Erde zu finden sind, potenziell auch in jeder und jedem einzelnen von uns.

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14 Tage später waren wir längst wieder an Bord.
Ich hatte viel anderes zu tun und nicht mehr so viel über das ganze Thema nachgedacht. Jona und ich bekamen unsere Rückmeldung für die Spanischpräsentation von vor drei Tagen. Wir bekamen keine schlechte und keine gute Note – in Ordnung. Warum? Wir beide hatten uns nicht genug Informationen von den Leuten vor Ort eingeholt. Nicht genug den Kontakt mit den Kubaner:innen gesucht. Lusinja sagte, sie hätte schon erwartet, dass wir mit ein paar Leuten dort das Gespräch suchen. Sie wisse, es sei wegen der kurzen Aufenthaltszeit schwierig gewesen, aber sie hatte es ja auch geschafft zum Beispiel mit dem Taxifahrer auf der Fahrt zum Strand über unser Präsentationsthema zu reden. Nunja, an sich hätte ich diese Möglichkeit auch gehabt. Stimmt. Ich saß auf der Rückfahrt sogar anfangs neben dem Fahrer. Aber ich fühlte mich so bedrängt in diesem engen Auto, Bein an Bein mit dem Fahrer, dass sich Panik in mir breit machte. So sehr, dass ich den Fahrer bat anzuhalten und Pablo mit mir den Platz tauschte. Und auch sonst hatte ich große Probleme mit intensiven Situationen und Unterhaltungen, egal ob mit Fremden oder Freund:innen. Und ich hatte außerdem weder einen Kopf für die Präsentation noch die Fähigkeit, mit Jona das Ganze zu kommunizieren. Lusinja gab uns später zwar die Chance, ein anderes Thema zu wählen, doch das war uns persönlich zu kurzfristig.

Warum ich das jetzt erzähle? Nicht wegen der Note. Nicht wegen Lusinja. Wegen dem System, das dahintersteckt. Das, was mich schockiert hat, was mich wütend gemacht hat, was so ein Schlag in die Magengrube war, war das Gefühl, dass diese Situation einfach ein Sinnbild für den generellen Umgang mit sexualisierten Übergriffen in unserer Gesellschaft ist. Sie hat mir einfach ganz klar vor Augen geführt, dass am Ende Menschen, die sexualisierte Belästigung/ Übergriffe/Gewalt erfahren, mehr Probleme, Kummer und Nachteile bekommen, als der Mensch, der ihnen diese Sachen angetan hat. Dass wir in einer Welt leben, in der Vergewaltigungsopfer nicht selten ein Leben lang von posttraumatischen Belastungsstörungen, Panikattacken, Essstörungen, Schlafstörungen, sozialer Isolation und sexueller Befangenheit heimgesucht werden, während Vergewaltiger:innen in maximal 7,5 Prozent (auf Deutschland bezogen [4]) der Fälle eine Haftstrafe von wenigen Jahren droht.

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Es ist der 16. April 2022, also nochmal rund 20 Tage später.
Es geht mir immer besser. Ich möchte, wenn ich zu Hause bin, eine Therapie machen, um zu lernen, mit den trotzdem spürbaren Folgen des sexualisierten Übergriffs auf Kuba umzugehen. Ich werde manchmal panisch in engen Situationen mit vielen Menschen, aber auch bei nahem Körperkontakt, der nicht vollkommen aktiv von mir verursacht wurde. Generell läuten meine Alarmglöckchen für Grenzüberschreitung schneller und schriller als vorher. Aber das ist okay, es ist nicht mein Ziel mit der Therapie den Zustand von davor zurückzubekommen. Aber ich wünsche mir, noch besser verstehen zu können, was das alles mit mir gemacht hat.

Trotz allem denke ich, ich hatte vor allem sehr viel Glück. Vielleicht eher Glück im Unglück, aber ich hatte ein Umfeld, das mir beigebracht hat, dass ich über sowas sprechen darf, an Bord und zu Hause Menschen, die mich auffangen wollten und konnten. Ich habe intuitiv angefangen, darüber zu schreiben und die Möglichkeit, mir professionelle Hilfe zu suchen. Die Frage, die mich die letzten Wochen begleitet hat und Anlass dafür war, über meine persönliche Erfahrung hinaus das System dahinter in Frage zu stellen und verstehen zu wollen, ist folgende: Was ist mit Menschen, die das nicht haben? Die das mit sich rumtragen, die ganze Zeit? Deren Umfeld aus Leuten besteht, die ihnen sagen, dass sie selber daran Schuld sind anstatt Menschen, die sie unterstützen? Was ist mit Menschen, die alleine durch solche Situationen gehen? Denn davon gibt es so viele. Viel zu Viele.

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Ich habe diesen Blogbeitrag verfasst, weil ich es wichtig finde, dass wir über Themen wie diese sprechen. Weil mir wichtig ist, dass Menschen, die sexualisierte Gewalt erlebt haben oder potenziell noch erleben, sehen, dass laut sein auch ein Weg der Verarbeitung sein kann. Niemand muss laut sein. Niemand muss über das Erlebte sprechen. Aber alle sollten es dürfen. Ich habe eine Zeit lang damit gehadert, diesen Beitrag zu veröffentlichen. Ich habe gesehen, was er mit den Leuten gemacht hat, die schon vor Wochen die ersten Seiten lasen. Die meisten wurden nachdenklich. Es hat sie bedrückt und beschäftigt und ich habe mich dafür verantwortlich gefühlt. Bis mir bewusst wurde, dass das Denken, ich müsste mich darum kümmern, dass sich alle wohlfühlen, potenziell auch Folge dessen ist, dass ich ein weiblich sozialisierter Mensch bin und, stark vereinfacht, im Vergleich zu meinen männlich sozialisierten Freunden aus Kindheitstagen schon seit je her für Fürsorge, Achtsamkeit und Sanftheit häufiger positive Rückmeldung bekam/bekomme.

Ich habe mir Sexismus und sexualisierte Gewalt nicht ausgedacht. Ich erschaffe es nicht, indem ich darüber schreibe, ich versuche es bloß sichtbar zu machen. Denn nur was sichtbar ist, kann verändert werden.

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Falls beim Lesen dieses Textes Erinnerungen an persönliche Erfahrungen in dir hochgekommen sind oder du bemerkt hast, dass du Themen mit dir trägst, die du gerne aufarbeiten würdest, findest du hier Zugang zu lokalen Anlaufstellen bei allen möglichen Formen von sexualisierten Übergriffen oder häuslicher Gewalt. In fast jeder deutschen Stadt gibt es Hilfestellen für Betroffene, dafür am besten die nächstgelegene Stadt und dahinter „Anlaufstelle sexualisierte Gewalt“ oder ähnliches in eine Suchmaschine eingeben. Auf den jeweiligen Websites findest du dann meist eine E-Mail-Adresse und/oder eine Telefonnummer. Wenn du dorthin schreibst oder anrufst, kannst du alles weitere mit den Mitarbeitenden abklären. Laut Erfahrungsberichten sind die Mitarbeiter:innen sehr verständnisvoll und geduldig. Eine Kontaktaufnahme verpflichtet dich zu nichts und der Umfang und die Intensität von Therapiegesprächen wird von dir bestimmt. Zudem bieten die meisten Einrichtungen auch kostenlose Hilfe an.

Hier sind aber auch die Nummern von Anlaufstellen aus ein paar Städten aufgelistet:
Mainz: 06131 · 22 12 13 (info@frauennotruf-mainz.de)
Marburg: 06421 · 2 14 38
Regensburg: 09 41 · 2 41 71
Frankfurt am Main: 069 · 70 94 94 (beratung@frauennotruf-frankfurt.de)
Heidelberg: 0 62 21 · 18 36 43
Mannheim: 06 21 · 1 00 33

Außerdem gibt es das Hilfetelefon von „Gewalt gegen Frauen“ 0 80 00 · 116 016
Aber auch den 24-Stunden Notruf +43 17 19

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Sidenote:
Auch wenn hier oft von Gewalt gegen Frauen oder dem Frauennotruf gesprochen wird, können dort natürlich alle Menschen, egal welchem Geschlecht sie sich zugehörig fühlen oder ob sie sich einem zugehörig fühlen, nach Beratung fragen. Kein Problem ist „zu klein“ oder „zu wenig schlimm“, um professionelle Hilfe in Anspruch nehmen zu wollen!

Vielen Dank für eure Zeit und Aufmerksamkeit. 

Eva

Quellen:
[1] https://youtu.be/uc0P2k7zlb4
[2] https://www.globalcitizen.org/de/content/art-installation-rape-clothing-victim-blaiming/
[3] https://www.frauennotruf-kiel.de/de_si/dasistgewalt/vergewaltigung/vor-urteile-vergewaltigung/
[4] https://www.tagesschau.de/investigativ/report-muenchen/verurteilungen-vergewalitigung-101.html